Fritz BILLETER

Im Zeichen von Maske und Stern, 1994

Seit 1978 bedient sich Philippe Grosclaude des Pastells, nachdem er vorher in Öl und Acryl gemalt hat. Wer Pastell sagt, denkt zunächst an duftige Farben, an die Lieblichkeit Renoirs oder an den Puderschimmer des Rokoko. Vielleicht ist es kein Zufall, dass zuerst eine Künstlerin, die Venezianerin Rosalba Carriera (1675-1757), die Pastelltechnik aus ihrer blossen Nebenrolle herausgeholt hat. Nun ist aber die Pastellmalerei von Philippe Grosclaude nicht zärtlich und nicht duftig, sondern « männlich ». Warum hat er sich dann überhaupt dem Pastellstift zugewandt, wenn er die ureigenen Möglichkeiten dieses Verfahrens gar nicht ausschöpfen will? Weil Grosclaudes Bilder so entstehen, dass Farbschicht auf Farbchicht gebreitet wird – manchmal kommen bis zu vierzig aufeinander zu liegen. Würde er beim Malen Ölfarben verwenden, müsste er nach dem Auftrag jeder Schicht warten, bis die Farbe getrocknet wäre; mit Acryl ginge es schneller, aber für Grosclaude noch immer nicht schnell genug. Bei Pastellen jedoch kann er ohne abzusetzen Schicht auf Schicht legen. (Dabei sei das technische Detail erwähnt, dass er zwischen jede Pastellschicht eine lage Fettkreide einschiebt, damit der Pastellstaub besser haftenbleiblt.) Jene eben beschriebene Kontinuität ist Grosclaude beim Entstehen des Bildes wichtig. Es gibt Künstler, wie Leonardo da Vinci, die länger vor ihrem Werk reflektieren, als sie an ihm arbeiten. Es gibt Künstler, die vier, fünf Bilder gleichzeitig in Arbeit haben, die malend leicht von einem zum andern hinüberwechseln. Nicht so Philippe Grosclaude: Er kann sich nur auf ein Bild zugleich konzentrieren, und darum sollte er es möglichst in einem Zug durchmalen können. Er kann sich aufs Mal nur auf ein Bild konzentrieren. Das heisst wohl auch, dass er immer nur das eine im Sinn hat, seine Vision. In der heutigen Post-post-Moderne ein Wort, das fast als altertümlich, als pompös empfunden wird. Anderseits kann ich mir nicht vostellen, dass das gegenwärtige Getändel (wenn nicht so, dann halt so) noch lange anhalten wird. Der Kommende Trend könnte durchaus dorthin gelangen, wo Grosclaude von Anfang an, seit je gestanden hat: bei einer tragischen Position. Wie aber lässt sich Grosclaudes Vision näher in Worte fassen, wie kann sein typisches Bild umschreiben werden? Bei Grosclaude türmen sich abstrakte Formen, verzahnen sich, legen sich Tranche für Tranche aneinander, durchdringen sich in Schwung und Gegenschwung: gerundete, elliptische, parabolische, trapezähnliche und spindelförmige Gebilde, die sich selten schliessen, die häufig über die Bildränder hinausstreben. Neben solcher ausdrucksstarken Geometrie behaupten sich auch die freie Geste, die Kritzel, die Strichbündel; aber dieser « tachistische » Anteil ist gezähmt, muss sich einschränken. Das Farbklima ist selten kosmisch-eisig, aber kältend weht es einen schon an: Blau, Blaugrün, Weiss und Schwarz. Dieser Unwirtlichkeit treten warme Erdfarben entgegen, die sich auch zu einem intensiven Orange steigern können. Dem, was ich als Grosclaudes ausdrucksstarke Geometrie bezeichnet habe, sind zwei sich heraushebende Motive eingebunden: das Maskengesicht und der Stern. Die von Grosclaude häufig im halben En Face gegebenen. Gesichter haben nicht etwa Masken vorgebunden, sie selbst sind zur Maske erstarrt. Sie sind erstarrt in heroischem Aushalten, in Trauer und Schmerz, vielleicht in innerer Sammlung. Grosclaude hat den Zügen seiner Gesichter eine eigene Konvention verliehen – volle und schwere Münder, grosse, laicht gekrümmte Nasen, deren Rücken überdeutlich durchgezogen und ins Helle gerückt sind, während die Augenpartie sich als Dunkelzone herausbildet; eine Haube oder kapuze oder aber eine schwer herabsinkende Haarflut deckt den kopf. Insofern Grosclaude immer denselben mittelmeerisch-herben Gesichtstyp abwandelt, darf man diesen als ikonenhaft bezeichnen. Diese Gesichter können aus sich selbst strahlen, in gipsernem Weiss wie tot erscheinen, leer sein oder fast erloschen, von aussen eher anbrandender Farbe nahezu verschlungen werden. Grosclaudes Stern, ein Gebilde mit vier bis sieben Zacken, setzt sich zuweilen auf das Maskengesicht. Häufiger findet er sich in dessen Nachbarschaft, oder er tritt ganz selbständig auf. Auch dieses Zeichen ist im Typus festgelegt, wird nur immer abgewandelt. Ein klein wenig lässt es an die Konventionen des Comic Strips denken; da wäre dann bei Grosclaude doch ein Hauch von Humor auszumachen. Darf man diesen Stern als Symbol bezeichnen, und wenn er eines wäre, was würde es ausdrücken? Der Künstler selbst sagt aus, dass seine Bilder im ganzen auch immer so etwas wie eine Explosion oder Implosion zum Ausdruck bringen. In seinem Gestirn würde sich diese auseinanderstrebenden oder in sich zusammenstürzenden Kräfte gleichsam verdichten. Ich selbst meine nicht, dass Grosclaudes Sterne dem irrenden Wanderer den Lebensweg weisen; eher erinnern sie daran, dass über uns ain blindes Verhängnis waltet.

Fritz BilleterIm Zeichen von Maske und Stern, 1994

In: « Für einen neuen Blick », Françoise Jaunin, ABC-Verlag, Zurich 1994

Daghild BARTELS

Philippe Grosclaude

Der Genfer Künstler Philippe Grosclaude (Jahrgang 1942) zählt, obgleich einer der Stillen im Lande, zu den wichtigsten zeitgenoßischen Künstlern der Calvin-Stadt. Selbsternannter Außenseiter der Kunstszene, der beharrlich seinen Weg verfolgt, blieb er dem Tafelbild treu, das er meist in vertikalen Formaten präsentiert. Es sind Bilder, auf denen sich turbulente, gestische Farbstrudel ausbreiten, bei dominanten Blaugrautönen, die mitunter mit kräftigem Ocker bis Orange angereichert werden. Zwei konstante Leitmotive konturieren sich aus den bewegten Farbfeldern heraus: ein menschliches, maskenhaftes Gesicht mit blindem Blick und ein Stern, der häufig wie eine Sternschnuppe durch die Szene geistert. Beide Motive sind poetische Metaphern für Grosclaudes Lebensphilosophie. Er sieht den Menschen als leidende, aber dennoch selbstbewußte Kreatur, umfangen von der «unerträglichen Schwere des Seins». Daß sich diese Kreatur gleichwohl triumphierend aus den Farbturbulenzen erhebt, macht sozusagen das Prinzip Hoffnung aus. Der Stern, der das menschliche Wesen leitet, symbolisiert die Möglichkeiten von Konfrontationen und Explosionen (z. B. unterdrückten Leidenschaften). Das Bild gerät so zu einem Kraftespiel unterschiedlicher Spannungen, die freilich durch die Energie der Komposition sublimiert werden. Besonderheit der «Malerei» Grosclaudes: Seit 1976/77 verwendet er eine Technik, die ihm allein gehort. Er «malt» ausschließlich in Pastell, füllt die Leinwand bis auf den letzten Quadratmillimeter mit energischen Pastellstricheleien, die in bis zu [20] Schichten übereinandergelagert werden. Die Pastelltechnik wird somit gegen ihre eigentliche Natur, gegen den Strich eingesetzt. Statt transparenter Leichtigkeit sind hier vielschichtig strukturierte und kompakte Farbflachen das Resultat, dem man freilich noch die multiplen Übermalungen ansieht. Mit Ölmalerei wäre dieser Prozeß der permanenten Übermalungen nicht möglich; er müßte zu lange warten, bis eine Schicht trocken ist, sagt Grosclaude. So kommen Technik und Methode seinem Denken, das auf Ausdauer angelegt ist, zugute. Neuerdings benutzt Grosclaude das Pastell auch in flüßiger Form. Er löst die Substanz auf und spritzt sie nach Art der abstrakten Expreßionisten auf die Leinwand, so daß auf den jüngsten Werken wolkige, informelle Gebilde mit den kompakten Strichelfeldern kontrastieren.

Couple, 1992

Daghild Bartels – Artis, juin-juillet 1994

In der Genfer Galerie Anton Meier präsentierte Grosclaude in vorzüglicher Inszenierung seine neuesten Arbeiten. Ein exquisiter Prachtband (erschienen im ABC-Verlag, Zürich, Vorzugsausgabe mit Originalzeichnung) gibt eine komplette Darstellung, begleitet von exzellenten Interpretationen von Grosclaudes Œuvre, und eine Monographie, die den Genfer in eine Reihe mit großen Schweizer Künstlern stellt (z. B. Max Bill, Meret Oppenheim) und ihn auch in der Deutschen Schweiz bekannter machen dürfte, denn sie ist zweisprachig.

Repr. : Couple, 1992

Françoise JAUNIN

Philippe Grosclaude – Die wunderbare Behattlichkeit

Der Künstler   Philippe Grosclaude wurde 1942 in Genf geboren, wo er von 1958 bis 1963 die Ecole des Beaux-Arts besuchte und heute noch, sesshaft aus Überzeugung und ganz auf seine Arbeit konzentriert, lebt. Seine Arbeiten wurden dreimal durch eidgenëssische Stipendien (1965, 1968 und 1981) ausgezeichnet und gefördert, 1977 erkannte ihm die Stadt Genf den Boris-Oumanski-Preis zu. Ab 1964 zeigt er seine Arbeiten in persönlichen Ausstellungen in der Walsch-und Deutschschweiz sowie in Frankreich; in Europa zirkulierten sie in Gruppen-Austellungen.
Der Künstler ist, was den Rhythmus seiner Austellungen und die Wahl seiner Galerien angeht, ebenso unbestechlich und anspruchsvoll, wie in den Anforderungen an sich selbst. […]

Technik   Ist Philippe Grosclaude nun eigentlich Maler oder Zeichner? Die Unterscheidung scheint überflüssig. Seit 15 Jahren hat er zwar Pinsel und Acrylfarben gegen Pastellstifte eingetauscht, die Kreide wird in seinen Händen jedoch zum Werkzeug des Malers.
Er benutzt sie meisterhaft ais subtiler Kolorist fast gegen ihre ursprüngliche Bestimmung, zwingt sie auf die Leinwand in ein dichtes, geduldig gesponnenes Gewebe, s!attigt die Farbe zu einem stumpfen Glühen. Für den Künstler «gewinnt eine Sache an Kraft, je mehr sie gebändigt wurde».

Werk   lm Zentrum des Werks steht der Mensch. «Das einzige, was wirklich zählt», sagt Philippe Grosclaude, «ist am menschlichen Erfahren teilzuhaben».
Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre drückt er dies noch auf sehr demonstrative Weise aus, indem er auf seinen Bildern den Zusammenprall des Organischen mit der Geometrie inszeniert. Danach werden seine Mittel immer bildhafter. Die Titel verschwinden, die bohrende Besessenheit findet ihre gleichzeitig superbe und schmerzhafte Sprache; Form und Aussage erreichen die vollkommene Verschmelzung, die sie voneinander untrennbar macht. Das Gesicht ist allgegenwärtig. Ein emblematisches Gesicht, ein christushafter, zykladischer Kopf ist in einer Ecke des Bildes gleichsam postiert. Darum herum überwuchern expandierende Formen, mächtige Spannungs- und Kraftfelder, die von gegensätzlichen Energien durchquert werden, den Raum bis zum letzten Zentimeter.
Die Bilder von Philippe Grosclaude fürchten die Leere. Nichts ist zufällig, alles bedeutsam.

Situation seines Werks   Die Arbeit von Philippe Grosclaude ist die aines fanatischen Einzelgangers.[…] Obwohl ein Einzelgänger, nimmt bei diesem Künstler die Freundschaft einen hohen Stellenwert ein. Er vergräbt sich in seinem Atelier, bleibt aber trotzdem für die Aussenwelt offen. Er ist (durch die zeitraubende Technik, die er sich geschaffen hat) vollständig von der Zeit, von der Welt hinter der Türe seines Ateliers losgelöst und steht gleichzeitig mitten im Leben. Er arbeitet unabhängig von aktuellen Moden und Strömungen, lässt sich, was Schule, Stil oder Technik betrifft, in keine Kategorie einordnen und hat dennoch am Zeitgeist teil.

Françoise Jaunin 1993

Jean-Luc Daval

Philippe Grosclaude

Seit ungefähr zwanzig Jahren beschreitet Philippe Grosclaude einsam einen mit Schlingen übersäten Weg, den einer Malerei, die weder auf ihre figurativen Möglichkeiten noch auf ihre expressive Kraft verzichten möchte, indem er paradoxerweise Intimismus und Expressionismus vermischt.  Grsoclaude spricht vom Menschen, seiner Einsamkeit, seinen Ängsten und seinen Kommunikationsschwierigkeiten ; er tut es, indem er die Tiefe des Bewußtseins den Bedingungen der zu beschlagnahmenden Flämit nervösen, gespannten, ständig überlasteten Strichen entgegenstellt, Ebenen mit Rissen, Oberflächen mit Reliefs, symbolische Zeichen mit der Aussagekraft von Schrift konfrontiert. Grosclaude hat lange um sein Ausdrucksmittel gerungen, indem er mit den MögliChkeiten der Ölmalerei experimentierte, dann Acrylmalerei versucht ; aber das ihm gemäße Mittel fand er, als er zur Zeichnung – Kreide, Kohle, Pastell – zurückkam.

Segments, 1986/12

Auf einer immer monumentaler werdenden glatten Fläche kann er Linien ziehen, die endlich Ebenen bilden, die die Handschrift seiner hartnäckigen Arbeit tragen und die gleichermaßen undurchsichtig oder transparent erscheinen. Blau, Orange, Schwarz und Weiß, dicht oder durchlässig aufgetragen, bilden einen unendlichen Raum, in dem sich die Formen natürlich ergeben, wenn sie sich der pulsartigen Dynamik der Geste unterchewerfen.

Nur die Freunde, die häufig sein Atelier aufsuchen, können die Hartnäckigkeit wahrnehmen, die Grosclaude aufwendet, um seine Bilder « in Arbeit » einen unverhältnismäßig großen Haufen Staub entdecken, der zu der Lebendigkeit des graphischen Zeichens, von dem die Zeichnungen noch zeugen, nicht zu passen scheint. Grosclaude wußte auf wunderbare Weise Zeichnung und Malerei in dieser originellen Arbeitsmethode zu vereinen. Grosclaude ist besessen vom Bild des Kopfes; im Raum angeordnet, enthüllt er sein Leiden ebenso wie das Denken, das strahlend den Raum erhellt. Den Ausdruck für das Wesentliche findet er in der Klarheit seiner bildnerischen Befangenheiten, die direkt die Transparenz seiner inneren Welt widerspiegeln. Diese erreichte er nicht durch Vereinfachung oder Vergessen, sondern durch – oft bittere – menschliche Erfahrung, die er mit Klarheit und Aufrichtigkeit durchlebte. In lange erarbeiteten Abstufungen und Farben sendet er sein geheimes Licht aus. Seine Oberflächen, die als flach zu definieren sind, schaffen durch ihre Kontraste einen tiefen Raum. Ob geometrisch oder symbolisch, sollten seine Bilder in einer Wirklichkeit angesiedelt werden, wo die Farben des Wortes in jene des Bewußtsein übergehen.

Tête déboussolée, 1986/10

Jean-Luc Daval, Philippe Grosclaude, in 40 Schweizer Künstler, in Kunstszene Schweiz, das Kunstwerke, Zeitschrift fur Moderne Kunst, RFA, 4-5 XXXIX, septembre 1986

Charles GEORG

Schweizer Zeichnungen 1970-1980
Philippe Grosclaude

Seit 1963 hat Philippe Grosclaude das Malen aufgegeben, um sich ausschliesslich der Zeichnung zu widmen. Er verwendet ein grosses Format, das der Weite seiner Gestik und seiner Formen entspricht. Er geht ohne Vorzeichnung von einer ersten Idee aus, deren Inspirationsquellen von vorangehenden Zeichnungen entsprungen sind. Aber diese Idee wandelt sich im Laufe der Arbeit, deren Vollendung langsam vor sich geht. So bildet die Gesamtheit der Zeichnungen von Philippe Grosclaude ein homogenes Ganzes, bei dem jeder Teil an die anderen gebunden bleibt.

Um die Darstellung des Menschen entwickelt sich eine gemeinsame Thematik, ausgelöst durch die Konfrontation des Künstlers mit der Gesellschaft, schmerzliches Aufeinandertreffen, Gewalterzeuger. Sie wird angezeigt durch die Gesichter und Hände, die nicht in ihrer Individualität, sondern allgemein dargestellt werden. Die Linie dramatisiert sie oder stilisiert die Gesichter in der Art von Negermasken. Der Ausdruck dieser Gewalt wird jedoch durch die Struktur der Komposition, welche organische Formen aufbaut, eingedämmt lind erreicht so eine dritte Dimension.

Der Zustand des Konflikts wird durch die fast ausschliessliche Verwendung von Schwarz und Weiss betont. Werden kalte Farben verwendet (etwa Blau), dann in der Funktion des Farbwerts, um den Übergang zwischen Schwarz und Weiss zu erleichtern; ist es eine warme Farbe (Rot oder Orange), so ist es nur ein Farbfleck, der die Spannung zwischen Schwarz und Weiss erhöht.

Aber Philippe Grosclaude ist trotzdem kein expresssionistischer Künstler, weil die Beherrschung und Disziplin in seinem Werk das Irrationale unter Kontrolle halten, um zu einem Glcichgewicht zwischen Dynamik und Zurückhaltung zu gelangen.

Charles Goerg, Philippe Grosclaude

In : « Schweizer Zeichnungen 1970-1980 » Eine Ausstellung der Stiftung Pro Helvetia, [suppl. cat. « Le dessin suisse 1970-1980 », Musée d’art et d’histoire, Genève 1982]